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Unreitbar

Vor ein paar Wochen besuchte ich wieder einmal meine Eltern. Sie sind vor einiger Zeit in eine kleine Stadt im Harz gezogen. In einem Nachbarort habe ich einen Reiterhof gefunden, wo ich die Möglichkeit habe, jeweils eine Stunde mit einem Pferd allein in der Reithalle zu verbringen. Das hat den Vorteil, daß man während dieser Zeit ungestört Dinge üben kann, die sonst in der Abteilung oder im Wald zu kurz kommen.

Also rief ich dort an, um mich für den nächsten Tag mit "meinem" Pferd zu verabreden. Die Angestellte am anderen Ende der Leitung sagte mir, daß die Tinkerstute Jule im Moment Probleme mit der Atmung habe. Deshalb könnte ich nicht allzuviel mit ihr machen. "Hätten Sie denn noch ein anderes Pferd, daß zu meiner Größe paßt?", fragte ich. "Eigentlich nicht. Da wäre noch ein Haflinger, der buckelt." - "Haflinger sind mir zu klein. Da habe ich Skrupel, aufzusteigen." - "Dann ist da nur noch Jack. Er ist genauso groß wie Jule; auch ein Tinker. Aber der ist im Moment unreitbar. Er reißt dem Reiter ständig die Zügel aus der Hand. Und auf die Schenkel reagiert er dann auch nicht mehr. Wenn er traben soll, geht er seitwärts. Wenn er angaloppieren soll, bleibt er stehen und dreht sich um." Mein Gesicht hellte sich auf: "Das klingt doch gut! Den nehme ich." Am anderen Ende der Telefonverbindung war es für einen Moment still. Dann fragte sie: "Meinen Sie das ernst?" - "Ja. Ich sehe das so: Wenn ich es schaffen sollte, mich mit Jack zu einigen, habe ich mehr dazugelernt, als wenn ich eine Stunde lang ein Pferd reite, das wie ein Uhrwerk funktioniert." - "Na gut."

Als ich am nächsten Tag auf dem Reiterhof ankam, begrüßte Jack mich mit einem netten, tiefen Wiehern wie einen Freund (oder den Futter-Onkel), obwohl er mich eigentlich bisher nur vom Sehen kannte. - Ein guter Anfang, dachte ich. Putzen - Satteln - Trensen waren überhaupt kein Problem. Jack machte prima mit. Hätte er zwei Hände, würde er sich die Trense selbst angelegt haben...
Bevor wir in die Reithalle gingen, meinte die Angestellte: "Wenn es gar nicht geht, kommen Sie einfach zurück und holen sich die Jule."
Wir kamen aber nicht zurück und ließen die Jule lieber in Ruhe ihre Atemwegsprobleme auskurieren.

Stattdessen gingen wir beide in der Reithalle erst ein paar Minuten nebeneinander her. Ich führte Jack aufmerksam am Zügel auf gedachten Bahnfiguren mal nach rechts, mal nach links, und er paßte bald genau auf, was ich wohl als nächstes tun würde. ("Führen ist die Grundlage aller Bodenarbeit!")
Dann stellten wir uns in der Mitte der Halle auf, ich zog den Sattelgurt nach und stieg auf. Und blieb einfach erstmal still sitzen. Nach ein paar Sekunden schaute sich Jack zu mir um. Ich ritt aber immer noch nicht an. Erst nach einer Minute gab ich ein wenig Schenkeldruck, und wir gingen ohne Zögern im Schritt los. (Darauf hatte Jack ja schon gewartet.)
Sobald ich die Zügel auch nur ein wenig aufnehmen wollte, schoß Jack's Kopf nach unten. Ich ging mit dem Zügelende einfach mit, so daß sein Kampf gegen den Zügel vollständig ins Leere ging. So reagierte ich während der ersten Minuten der Schrittphase jedesmal. Dadurch, daß der Kampf gegen den Zügel ausfiel, reagierte er auf meine Reiterhilfen mit den Schenkeln und dem Gewicht, und ließ sich so trotz fehlender Zügeleinwirkung lenken. Hin und wieder mußte ich lediglich seinen Kopf mit der Hand oder dem Zeigefinger zurechtschieben. Währenddessen lobte ich ihn für alles, was er richtig gemacht hatte.

Nach vielleicht zehn Minuten hielt ich das erste Mal ein wenig dagegen, und ließ die Zügel nur noch mit Widerstand durch meine Hände gleiten. Jack hielt inne und sein Kopf ging diesmal nicht soweit nach unten. Beim nächsten Mal tat ich dasselbe, drückte aber auf halber (Kopf-)Höhe die Fäuste ganz zu. Sofort blieb sein Kopf stehen und kam einen Moment später von selbst nach oben. Zeitgleich nahm ich die Zügel auf und mit ganz leichtem Kontakt an und erhöhte den Schenkeldruck für ein paar Schritte, um seine Vorwärtstendenz zu erhalten und zu verstärken. Nach ein paar Sekunden strich ich mit der Hand an seinem Hals in Richtung Kopf entlang und drückte ihn dabei leicht nach unten bis er den Kopf senkte. Die Zügel gab ich dabei vollständig nach. Ein paar Schritte später zupfte ich einige Male am Zügel nach oben und trieb mit den Beinen wiederum etwas stärker, um seinen Kopf wieder heraufzuholen. Kaum war der Kopf oben, ließ ich allen Druck und Zug sofort nach und lobte ihn deutlich.
Jetzt hatte ich den Spieß also umgedreht: Jetzt legte ich fest, daß und wann er den Kopf nach unten nehmen sollte. Das tat ich nun auch in kleinen, dann immer größeren Abständen. Dazwischen versuchte ich, sobald der Kopf wieder oben war, ihn mit anderen Dingen (Wendungen, Schlangenlinien, Volten, Spielchen) von der Idee, den Kopf wieder von allein zu senken, abzulenken. Das ging bald recht gut.

Deshalb ließ ich ihn antraben. - Und richtig: Sofort zog er seitwärts zur Bahnmitte. Da ich ja vorgewarnt war, hielt ich fast zeitgleich mit dem inneren Schenkel und dem äußeren Zügel dagegen und wiederholte meine Hilfen zum Antraben deutlicher, bis Jack antrabte, und zwar vorwärts. Sogleich nahm ich jeden überflüssigen Druck weg und lobte ihn natürlich wieder.
Auf verschiedenen Bahnfiguren versuchten wir mit Erfolg einige Schritt-Trab-Schritt-Reprisen. Die ganze Zeit über bemühte ich mich von Herzen, die Zügel mit nur ganz sanftem Kontakt in den Händen zu halten. Ganz offensichtlich blieben Jack meine Bemühungen nicht verborgen: Sein Vertrauen in meine Hände schien zu wachsen und er schien mir immer aufmerksamer zu werden.
So versuchte ich, anzugaloppieren. Und das gelang sogar! Allerdings, fiel er mir nach ca. fünf Galoppsprüngen schon wieder auseinander und somit in einen schnellen Trab zurück. Aber immerhin!
Die letzten Minuten verbrachten wir mit einem Spiel: Ich ritt einhändig an verschiedene Punkte der Bande heran und versuchte sie mit der freien Hand zu berühren. Als Jack verstanden hatte, wobei es mir bei diesem Spiel ging, ließ er sich ganz leicht "rangieren" und konnte plötzlich sogar rückwärts gehen! Er dachte mit!

Nach dem Absitzen am Ende unserer Reitstunden führte ich ihn noch zwei, drei Minuten durch die Halle. D. h. "Führen" ist zuviel gesagt: Er folgte mir mit gesenktem Kopf einfach überall hin.

Während der nächsten drei Tage wiederholte ich meine Anstrengungen auf Jack. Am dritten und vierten, letzten Tag hatten wir beide zusammen schon jeweils eine fast "normale" Reitstunde. Alle bedauerten wir, daß ich danach schon wieder abreisen mußte.

Ein schöner Erfolg in kurzer Zeit, nicht wahr? - Der kann bestimmt richtig gut reiten, der Brehmer, denken Sie jetzt vielleicht. - Nein, kann er nicht. Er reitet eher durchschnittlich. In meinen Reitkünsten liegt der Erfolg dieser vier Tage sicherlich nicht begründet. - Worin denn? - Man kann miteinander reden, nicht wahr? Und das haben Jack und ich getan:
Sie erinnern sich: Vor dem Reiten hatte ich Jack ein paar Minuten lang geführt. Und dabei bemühte ich mich, seine Fragen sehr schnell und sorgfältig zu beantworten, damit er wußte, woran er mit mir eigentlich ist: "Ist es dir egal, wohin wir gehen, oder willst du bestimmen?", fragte er und begann, den Kopf nach rechts zu ziehen. "Ich will.", antwortete ich und zupfte zur gleichen Zeit zweimal Mal am Zügel in meine Richtung, so daß er den Kopf gleich wieder zurückdrehte. Einen Augenblick später, gerade als ich nach links abbiegen wollte, fragte er: "Galt das nur vorhin, oder willst du jetzt auch noch der Chef sein?", indem er den Kopf nicht mit nach links in die Wendung bewegte. - "Hm, jetzt auch noch.", antwortete ich ihm und zupfte sofort dreimal leicht am Zügel zu mir, so daß er seinen Kopf nun auch nach links drehte...
Während des Reitens tat ich genau dasselbe: Jacks Abweichungen von meinen eigenen Vorstellungen verstand ich zunächst als Fragen von ihm, und bemühte mich jedesmal, ihm so schnell wie möglich zu antworten. Je schneller ich reagierte, desto weniger Kraft war dazu jedesmal erforderlich. Das gleiche gilt für das Nachgeben. Denn durch das Nachgeben sage ich meinem Gesprächspartner, daß seine Reaktion jetzt mit meinen Vorstellungen übereinstimmt. Also gebe ich so schnell wie möglich nach, damit das Pferd nicht inzwischen etwas anderes ausprobiert...