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Der bedrohliche Waldweg

Einmal wollte ich mit Ikarus in einen Waldweg reiten, den ich selbst noch nicht kannte. Ikarus sagte kategorisch: "Nein!" und blieb stehen. Ich versuchte es mit mehr Druck. Er sagte: "Wir gehen nach Hause!", und drehte um. "Nein, Ikarus!", antwortete ich, "Wir haben noch Zeit und gehen hier entlang!" Das regte ihn auf. "Ikarus, geh' jetzt endlich weiter!" - "Nein, ich habe wahnsinnige Angst!" - "Gut, dann lassen wir den Waldweg für heute. Aber wir gehen wenigstens noch ein Stück da entlang!" - "Ich will aber nach Hause." - "Komm schon! Ein Stückchen noch!"
Bei einem nächsten Ausritt nahm ich mir vor, daß wir diesmal den Waldweg schaffen würden. Dort angekommen sagte ich: "Komm, wir biegen nach rechts ab." Ikarus entgegnete mir aber: "Nein! Ich will nach Hause." - "Wir gehen noch nicht nach Hause. Laß uns wenigstens einen Moment hier stehen bleiben!", antwortete ich. Da standen wir nun und schauten in den schrecklichen Waldweg hinein. Ich versuchte ihn zu beruhigen: "Hab' keine Angst, Ikarus! Ich bin ja da." Nach vielleicht zwanzig Sekunden fragte ich ihn, ob wir es nicht doch noch einmal versuchen wollen. "Ich will schon, aber ich hab' Angst!", war seine Antwort. "Fein, daß Du willst.", entgnetete ich. Und etwas später: "Wie siehts aus? Ist die Angst noch zu groß? Versuch's noch mal!" - "Ich will, aber ich habe noch Angst." Dabei machte er einen Schritt nach vorn, nahm ihn aber zur Hälfte wieder zurück. "Na fein, Ikarus! Das war doch schon ein Stück in die richtige Richtung. Gut!" Etwas später schafften wir so einen ganzen Schritt vorwärts. Nach insgesamt knapp zwei Minuten meinte Ikarus, als hätte er nie gezögert: "Komm, wir gehen 'mal diesen Waldweg hoch! Mal schauen, wo der hinführt. - Du tust mir doch nichts?!" - "Natürlich nicht. Bist ein braver Junge."
Beim nächsten Ausritt hatten wir mit diesem Waldweg außer einem kurzen Zögern kein Problem mehr.
Später erfuhr ich, daß Ikarus an genau dieser Stelle eine schwere Auseinandersetzung mit dem Reitlehrer gehabt hatte, wobei er wieder gestiegen war. Das war wenige Tage bevor ich mit ihm dort entlang reiten wollte. Er hatte also schlechte Erfahrungen mit diesem Waldweg gemacht und wollte deshalb nicht mehr dorthin, vieleicht aus Angst, wieder getreten zu werden.

Sie denken, daß ein solches Gespräch mit einem Pferd nicht möglich ist? - Dann lesen Sie doch jetzt diese zweite Beschreibung der gleichen Begebenheit:
Mal sehen, ob das Ihre Meinung ändert.

Übrigens: Hätte ich mich am ersten Tag richtig durchgesetzt, vielleicht unter Einsatz von Füßen und Gerte, hätte ich seine Angst wahrscheinlich noch vergrößert. Jedesmal wäre es dann schwieriger geworden, dort entlang zu reiten. So hatte ich aber das Problem innerhalb weniger Minuten aufgelöst.