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Geht es denn mit Gewalt?

Scheinbar ja. Immer wieder sehen wir, wenn eine Gerte ein Pferd getroffen hat, daß dieses danach tut, was es soll. - Moment mal, tut es das? Wie sieht die Situation denn oftmals aus?:
  • Ein Pferd tut nicht, was der Reiter will, z. B. weil es ihn nicht verstanden hat.
  • Der Reiter setzt die Gerte, notfalls auch seine Hacken ein.
  • Das Pferd macht vor Schreck einen Satz, dreht sich, geht aufgeregt zur Seite...
  • Der Reiter versucht, das Pferd wieder "unter Kontrolle" zu bringen.
  • Der Reiter bekommt das Pferd wieder "unter Kontrolle" und reiht sich wieder ein.
  • Alle glauben, der Reiter hat sich dem Pferd gegenüber doch noch als Chef durchgesetzt.
  • Die ursprüngliche Aufgabe aber, die Auslöser für den Konflikt war, scheint vergessen...
  • Das Pferd hat also die eigentliche Aufgabe in diesem Moment doch nicht ausgeführt.
Wer hat hier gewonnen, wer ist der Sieger? Gibt es in dieser Situation einen Sieger?
Zugegeben, das ist nicht immer so. Oft schafft es der Reiter ja doch noch, seinen Willen gegenüber dem Pferd durchzusetzen. Manchmal hilft der Reitlehrer mit und macht dem Pferd ebenfalls Druck, damit es endlich tut, was es soll. Das funktioniert auch ziemlich oft, z. B. weil das Pferd unterdessen die Aufgabe verstanden hat oder zufällig das Richtige tut. Oder die Angst vor der Gerte wird größer als vor dem rot-weißen Kegel, an dem es sich nicht vorbei traute... Der Einsatz von Gerte, Füßen u.ä. scheint also ein einfacher Weg zu sein, ein Pferd zu korrigieren.

Schauen Sie sich folgende kleine Geschichte an (die ich mir natürlich ausgedacht habe, und die so nirgendwo passiert ist):

"Laß dich nicht veralbern von ihr - setz dich durch! Setz deine Gerte ein, du kennst Samira doch!" ruft die Reitlehrerin der Reiterin zu. Ihr Pferd, Samira, rennt, geht zur Seite, dreht sich, aber alles was sie versucht, gefällt dem Menschen auf ihrem Rücken nicht. Ssssrrrt! Wieder saust die Gerte gegen ihre Schulter. Samira macht einen Satz und spürt daraufhin einen reißenden Schmerz im Maul; das Trensengebiß schlägt gegen die Zähne. - Ach so, vielleicht soll sie ja rückwärts gehen? Aua, nein, auch falsch!
Samira versucht jetzt, der Menschin auf ihrem Rücken zu zeigen, daß sie doch gar nicht gegen sie kämpfen will. Sie bleibt deshalb stehen und senkt vorsichtig den Kopf. "Laß dir von ihr nicht die Zügel aus der Hand reißen!" Wieder gibt es einen Ruck und einen scharfen Schmerz im Maul. Dann spürt sie die Hacken der Menschin in ihrem Bauch. Samira rennt in die einzige Lücke zwischen den anderen Pferden. "Na also, geht doch."

Einige Reitstunden später... Die Reiterin stellt den linken Fuß in den Steigbügel. Als sie Schwung zum Aufsteigen holt, tippt sie versehentlich mit der Gerte ganz leicht das Pferd an. Sofort werden Samiras Augen riesengroß und sie macht einen panischen Satz zur Seite. Die Reiterin liegt auf dem weichen Hallenboden. Es ist nichts Ernstes passiert. Die Reiterin rappelt sich hoch, geht mit wutverzerrtem Gesicht auf Samira zu und holt mit der Gerte zum ersten Schlag aus...

Einige Wochen später... Krach! Krrch! - Der Steigbügel schleift an der Reithallenbegrenzung. Samira war mit aufgerissenen Augen und hochgetragenem Kopf der Gerte des Nachbarreiters ausgewichen. Dabei hatte sie ihrer Reiterin den Fuß eingeklemmt. "Wie oft muß ich das noch sagen?: Die Gerte immer weg vom Nachbarpferd! Besonders neben Samira, das wißt ihr doch!" ruft die Reitlehrerin einem Reitschüler zu. "Abteilung antraben! Leichtraben!"

Wieder einige Wochen später... "Du reitest ja gar nicht mehr auf Samira?!" bemerkt die andere Reitschülerin. "Die haben sie eingeschläfert. Die hat ja nur noch rumgezickt. Ist sogar gestiegen, das Mistvieh! Weißt ja, ihr Gertenproblem."

Wie gesagt, ist nur ausgedacht die Geschichte.
Wichtig:
Auch wenn Gewalt ein momentanes Problem schnell zu lösen scheint, so kann sie langfristig großen Schaden anrichten.
Ich selbst habe mehrfach die Erfahrung machen müssen, daß Gewalt manchmal noch nicht einmal für den Moment eine Lösung bringt. Einmal wollte ich Guy auf die Koppel zurückreiten. Ich suchte mir eine etwas erhöhte Stelle zum Aufsteigen, denn ich hatte ihn abgesattelt, und mit dem Sattel fehlten ja auch die Steigbügel. Als ich oben war, ritt ich zu meinem Auto, um einen Eimer mit Äpfeln mitzunehmen, den ich auf der Koppel verfüttern wollte. Den Eimer hatte ich aufs Dach gestellt, um ihn problemlos erreichen zu können. Dieser Anblick - Eimer auf Auto - flößte Guy solche Angst ein, daß ich es nicht schaffte, ihn dicht genug an das Auto heranzureiten. Ich bemühte mich immer stärker. Wir entfernten uns immer weiter vom Auto. Sehr bald stellte ich fest, daß ich bereits voll dabei war, gegen mein Pferd zu kämpfen. Sofort hörte ich damit auf. Guy auch. Ich stieg ab, nahm den Eimer vom Auto und wir gingen diesmal beide zu Fuß zur Koppel. Beim nächsten Mal konnte ich das Problem dauerhaft lösen: Ich führte Guy so dicht es ging ans Auto, nahm einen Apfel aus dem Eimer, teilte ihn, legte eine Hälfte wieder zurück in den Eimer und gab Guy die andere Hälfte zu fressen. Dann bekam er die zweite Hälfte aus dem Eimer. Das wiederholte ich noch ein paar Mal. Dann gingen wir weg, damit ich aufsteigen konnte. Den Eimer im Vorbeigehen mitzunehmen, war dann fast kein Problem mehr.

Ein anderes Mal wollte ich mit Guy über eine Autobahnbrücke reiten. Ich wußte damals nicht, daß er ein Problem damit hatte. Vor der Brücke blieb er wie angewurzelt stehen und bewegte keinen Huf mehr, egal was ich tat. Und ich tat damals viel. Viel mehr als mir eigentlich lieb war, als ich später darüber nachdachte. Ich versuchte es mit mehr Druck, ich stieg ab und versuchte, ihn hinüber zu führen. Ich versuchte den für mich eigentlich völlig unüblichen Einsatz der Gerte. ...und war wieder viel zu schnell dabei, gegen mein Pferd zu kämpfen! Als mir das bewußt wurde, hörte ich sofort damit auf. Guy auch. Ich ließ ihn eine Vorhandwendung machen, lobte ihn dafür und ritt nach Hause.
Beim nächsten Mal auf demselben Wege hielt ich Guy ein Stück vor der Brücke an, bevor er es tun konnte. Dann ritt ich wieder an und parierte wieder durch. Und nochmal, bis das Anreiten schon schwerer ging, weil wir der Brücke schon "gefährlich" nahe gekommen waren. Dann machten wir eine Vorhandwendung, ich lobte ihn dafür und wir ritten nach Hause. Genauso passierte das auch an vielleicht drei oder vier weiteren Tagen. Dann, eines Tages aber hielt ich ihn nicht mehr vor der Brücke an. Als er zögerte: "Halten wir hier nicht sonst immer an?", gab ich sofort(!) etwas mehr Schenkeldruck: "Ja, aber heute reiten wir weiter!", bis er wieder schnell genug weiterging. Ein paar Mal zögerte er noch: "Und hier? Anhalten?", aber ich reagierte jedesmal mit verstärktem Druck: "Nein, hier auch nicht. Weiter gehts!", und plötzlich waren wir auf der Brücke. Noch zwei-, dreimal verstärkten Schenkeldruck, und wir waren drüben.
Wichtig:
In beiden geschilderten Fällen (und das sind nicht die einzigen Fälle, die ich erlebt oder beobachtet habe) konnte ich ein Problem mit Gewalt und Kampf überhaupt nicht lösen. Als ich aber jeweils darüber nachgedacht hatte, konnte ich mit Vorbereitung und rechtzeitigen, zielgerichteten Reaktionen das Problem sogar dauerhaft und fast ohne Einsatz von Kraft lösen.
Nun kann sich eigentlich jeder selbst eine Antwort auf die Titelfrage geben...