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Pferde und Menschen

Mein erstes Nicht-Urlaubs-Pferd, auf dem ich regelmäßig ritt, war im Umgang eine Katastrophe. Zumindest fiel es mir als Anfänger sehr schwer, mit Bissen und anderen Angriffen fertig zu werden. Man hatte das Pferd Tatan von der Trabrennbahn gekauft. Dort werden Pferde wohl nicht immer sehr rücksichtsvoll behandelt. Tatan hatte mit den Menschen abgeschlossen. Für ihn waren diese gewalttätigen, unberechenbaren Zweibeiner keine Diskussion mehr wert.
"Sie müssen sich mehr durchsetzen!", sagte man mir, "Und in den ersten drei Sekunden nach einem Übergriff zurückschlagen! Der macht sonst was er will!"
Damit kam ich nicht zurecht. Deshalb kam man mir auf dem Reiterhof manchmal zu Hilfe und schlug Tatan an meiner Stelle. Verzweifelt suchte ich nach ruhigeren Wegen im Umgang mit Pferden, aber man sagte mir immer wieder, dass so etwas nicht ginge. Man müsse zu jedem Zeitpunkt die Rolle des Alphatiers übernehmen und sich durchsetzen. Sonst würde es gefährlich werden.

Einmal beobachtete ich eine junge Frau, die mit einer jungen Stute arbeitete. Ein heftiger Wortschwall ergoss sich über das Pferd, dazu sirrte die Gerte unterstützend. "Die weiß ganz genau, was sie jetzt machen soll!", rief die Frau aufgebracht in meine Richtung. "Die veräppelt mich bloß!". Wieder sirrte die Gerte und traf diesmal. Die verwirrte Stute machte einen Satz zur Seite. Gleichzeitig erfolgte eine laute, wortreiche Verwarnung. Ich staunte, woher das Pferd wissen konnte, was es jetzt tun sollte, denn nicht einmal ich hatte genau verstanden, was die Frau von dem Pferd wollte.

Viele Menschen erwarten von ihren Pferden, dass diese die menschliche Sprache erlernen. Ich glaube, damit sind Pferde hoffnungslos überfordert. Ich glaube eher, dass der Mensch mit seinem (meist) höheren Intellekt die Möglichkeit und die Pflicht hat, sich dem Pferd anzupassen. Seiner Art zu denken. Seiner Art zu kommunizieren. Seiner Art, die Welt zu sehen. Denn das Pferd sieht die Welt ganz anders als wir.

Dann kann es zu einer Kommunikation zwischen Mensch und Pferd kommen, die ohne Gewalt auskommt.

Dazu ist Mühe notwendig. Man muß sich die Mühe machen, etwas über das Pferd zu lernen. Über das Pferd, das in ständiger Angst vor Raubtieren lebt. Es weiß nicht, wie sie aussehen, aber es weiß, dass es welche gibt. Und es wünscht sich jemanden, der an seiner Stelle aufpasst, ob sich welche nähern. Diesem Jemand, wäre er zuverlässig und konsequent, würde es vertrauen und sich unterordnen. Damit es ohne Angst fressen oder ruhen kann. Diesem Jemand würde es jeden Gefallen tun.
Am liebsten wäre ihm ein anderes Pferd, das diesen Job übernimmt. Aber wenn kein anderes Pferd da ist, würde es sogar einem Zweibeiner vertrauen, wenn dieser denken und sprechen würde wie ein anderes Pferd und auf gefährliche Pferdefresser in der Umgebung achtete. Wenn er ihm jedesmal deutlich und rechtzeitig sagen würde, ob wir flüchten müssen oder nicht. Dem würde es vertrauen. Dann bräuchte es nicht mehr selbst aufpassen und keine eigenen Entscheidungen mehr treffen.

Und es geht! Ein Jahr später kam ich mit Tatan gut zurecht. Ohne Schläge. Auch andere schlugen ihn nicht mehr an meiner Stelle, denn es gab keine Situationen mehr, die das erfordert hätten. Sicher war es mir nicht gelungen, die Rolle des Alphatiers zu übernehmen. Das nicht. Aber die Rolle eines Freundes, der in den meisten Situationen, in denen es notwendig war, die ranghöhere Position innehatte.

Denn ich hatte begonnen, Entscheidungen zu treffen, bei denen ich auch konsequent blieb. Bald brauchte ich diese Entscheidungen nicht mehr zu treffen. Tatan hatte verstanden. Ich nutzte Elemente der Pferdesprache: Vor dem Satteln ließ ich ihn einen Schritt zurücktreten, um für die nächsten Minuten die Rangordnung zu klären. Er versuchte dann gar nicht mehr, mich zu beißen. Ich bemühte mich, auf die Signale meines Pferdes zu achten, sie zu verstehen und darauf einzugehen. Ich bemühte mich, schneller zu reagieren, denn ich hatte beobachtet, dass ich weniger Kraft benötigte, wenn ich früher auf mein Pferd reagierte.

Ich blieb freundlich und rücksichtsvoll, denn das konnte ich ja schon von Anfang an.

Durch diese vielen kleinen Erfolge verlor ich Angst und Hilflosigkeit, und strahlte nach und nach immer mehr Ruhe und Sicherheit beim Umgang mit Tatan aus.
Das funktionierte auch bei anderen Pferden, mit denen ich später Umgang hatte. Meine Bemühungen veränderten also nicht nur Tatan, sondern sogar in allererster Linie mich selbst. Der Lernprozeß im Umgang mit Pferden ist aber nie zu Ende. Das darf er nicht.

Irgendwann erleben wir dann vielleicht keine Sternstunden, aber Sternsekunden oder -minuten, in denen wir das Gefühl haben, dass wir die vier Beine unter uns direkt steuern könnten, dass wir mit unserem Pferd für einen Moment Eins sind. Irgendwann haben wir dann manchmal den Eindruck, unser Pferd könnte unsere Gedanken lesen, oder wir seine, obwohl wir genau wissen, dass das nicht möglich ist.