Startseite - Geschichten - Über diese Brücke...

Über diese Brücke

... mußt du gehen!



Mein Pflegepferd Guy hatte große Angst vor dem Überqueren einer Autobahnbrücke. Dies zeigte er mir beim ersten Versuch, indem er vor der Brücke erst schlagartig stehen blieb, und dann umkehren wollte. Das Umkehren verhinderte ich zunächst. Es war aber nicht daran zu denken, auch nur einen Zentimeter weiter auf die Brücke zu gehen. Nicht durch Antippen oder Wedeln mit der Gerte, noch durch Absteigen und Führen. Eher sind wir dabei zehn Zentimeter weiter zurück geraten.

Eigentlich waren wir schon fast dabei, gegeneinander zu kämpfen. Einen Kampf gegen das Pferd wollte ich nicht führen, offiziell aufgeben aber auch nicht. Also ließ ich das Pferd etwas tun, was wir in diesem Moment auch beide konnten: fünf Schritte rückwärts gehen, eine Vorhandwendung. Dafür lobte ich das Pferd und ritt zurück.

Nebenbei bemerkt, kann ich Guy verstehen: Die Geräuschkulisse auf so einer Autobahnbrücke ist enorm! Der Krach ist so stark, daß man ihn nicht nur hört, sondern auch spürt.

Beim nächsten Mal parierte ich das Pferd ein Stück vor der Brücke zum Stehen durch. Damit kam ich ihm zuvor und verhinderte, daß er eine eigene Entscheidung traf und von selbst stehenblieb. Dann ritt ich wieder an und parierte nach zwei, drei, vier Schritten wieder durch. Das wiederholte ich, bis das Anreiten deutlich schwerer ging (aber noch möglich war!). Dann ließ ich ihn einige Sekunden stehen, wieder drei Schritte rückwärts gehen, machte eine Vorhandwendung, lobte ihn dafür und ritt nach Hause.

Das machte ich die nächsten dreimal genauso.

Beim letzten Mal parierte ich Guy allerdings nicht durch sondern ritt weiter. Als er fragte: "Was ist los? Hier läßt Du mich sonst immer anhalten. Und hier auch. Und hier...", und langsamer wurde, gab ich für einige Schritte sofort deutlich mehr Druck, bis er wieder sicher weiterging. Gleichzeitig, im Takt der Schenkelimpulse rief ich: "Komm! - Komm! - Komm!...". Den ersten Schenkelimpuls unterstützte ich durch leichtes Antippen mit der Gerte (die ich ja sonst fast nie benutze). Wichtig: Sobald Guy wieder sicher weiterging, ließ ich schlagartig sämtlichen zusätzlich aufgebauten mechanischen und akustischen Druck wieder weg. Aber ich setzte damit genauso schlagartig wieder ein, wenn er auch nur daran dachte, wieder langsamer zu werden. Diese Intervention brauchte ich vielleicht viermal über die Länge der Brücke. Als wir drüben waren, lobte ich Guy sehr ausführlich mit Stimme und beiden Händen. Dann sahen wir uns auf der anderen Seite noch ca. zwanzig Minuten den Wald an und ritten wieder über die Brücke zurück nach Hause. Diesmal brauchte er auf der Brücke nur minimale Unterstützung: Ständigen Zügelkontakt, hin und wieder halbe Paraden und begleitend dann leicht erhöhten Schenkeldruck. Gleich hinter der Brücke lobte ich ihn wieder ausführlich.

Ab jetzt hatten wir beide auf der Brücke keine Probleme mehr. Wir konnten nun nach Belieben auch die andere Seite der Welt besuchen.

Fazit:
Um einem Pferd zu zeigen, daß wir zusammen eine ängstigende Situation meistern können, muß ich das Pferd zunächst in diese Situation hineinbringen. Dazu muß ich zeitweise etwas mehr Druck ausüben. Das sollte ich nur tun, wenn ich mir absolut sicher bin, daß ich uns auch gut und gefahrlos durch diese Situation hindurchbringe.