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Nö!

Oder: Ein schöner Tag

Der Bauer, Besitzer meines Pflegepferdes, begrüßte mich mit Handschlag. "Guy steht jetzt woanders." - "Ja? Wo denn?" Er beschrieb mir den Weg durch das Dorf zur Obstplantage. "Da siehst du die Pferde dann schon. Müßte eigentlich leicht zu finden sein. Den Draht mußt du auf- und danach wieder zumachen."

Also griff ich Führseil und Gerte aus dem Auto, hängte mir das in Schlaufen zusammengelegte Seil über die Schulter, überlegte kurz, was ich eigentlich mit der Gerte wollte, nahm sie aber dennoch mit, und machte mich auf den mir eben beschriebenen Weg zum neuen Aufenthaltsort "meines" Pferdes: Ich ging die Straße, die ich kurz zuvor mit dem Auto entlanggefahren war, zu Fuß wieder zurück und bog auf die Hauptstraße des Dorfes ab. Nach einer Weile fand ich auch den beschriebenen Weg, den ich nicht verfehlen sollte. Ich war froh, dass bis hierher alles glattgegangen war; jetzt sollte es nicht mehr weit sein. Genau, das dort vorn sieht aus wie eine Obstplantage. Hier müßte also bald die Koppel zum Vorschein kommen, wo ich den Draht lösen sollte, um hineinzugelangen. Als ich das Ende der Umzäunung der Plantage erreicht hatte, entdeckte ich einen Trampelpfad direkt links neben dem Zaun durch's hüfthohe, nasse Gras. Wahrscheinlich sind sie gestern hier mit den Pferden hochgegangen, dachte ich. Denn da vorn beginnt schon die zweite Obstplantage mit einer ebenso hohen Umzäunung; dort kann es nicht sein. Pferde waren nirgendwo zu sehen. Und so bog ich nach links auf den Trampelpfad ab. Der führte bergauf. Das Gras wuchs immer höher, der Trampelpfad war immer undeutlicher auszumachen, meine Hosenbeine wurden immer nasser und schwerer. Als ich endlich oben auf dem Berg angekommen war, sah ich das Ende der Plantage, an der ich bis zu diesem Moment entlanggelaufen war. Und was sah ich da?! - Feld! Weites Kornfeld! Und nicht die Spur einer Koppel!

Langsam stieg in mir so etwas wie eine leichte Verzweiflung auf. Zwanzig Minuten war ich schon unterwegs, und ich hatte noch keine Ahnung, wo ich mein Pferd finden würde. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Weg durch das nasse Gras wieder hinunterzugehen, um dann doch hinter der zweiten Obstplantage nach der Pferdekoppel zu suchen. Beim Abstieg schlug ich fast kopfüber hin, als ich mit dem rechten Fuß in einem Loch im Boden hängenblieb. Irgendwie konnte ich den Fall aber verhindern, sonst wären nicht nur Hose und Schuhe naß gewesen. Auch hinter der zweiten, umzäunten Obstplantage wuchs herrlicher Weizen. Leider gab es aber auch hier keine Koppel. Resigniert kehrte ich um. Ich überlegte, wo die Pferde noch sein konnten. Da entdeckte ich in der Umzäunung der Obstplantage eine Art Eigenbau-Tor, das auf beiden Seiten mit einem stabilen Draht provisorisch befestigt war. Auf dem Hinweg war mir das gar nicht aufgefallen. Vielleicht meinte der Bauer gar keinen Koppeldraht, sondern diesen hier?! Es war kein Mensch in der Nähe zu sehen. Also öffnete ich mutig das Tor zur Obstplantage, schlüpfte durch die Öffnung und verschloß das Tor hinter mir wieder mit dem Draht, damit die Pferde, wenn sie hierher kämen während ich mich noch auf dem Weg nach oben befand, nicht ausbüchsen konnten. Und weil der Bauer es gesagt hatte.

Wieder ein Aufstieg durch's nasse Gras. Aber diesmal war ich guter Hoffnung, auf dem richtigen Weg zu sein. Die Hosenbeine wurden immer schwerer. Bei jedem Schritt schmatzte das Wasser in meinen Schuhen, das sich dort unterdessen angesammelt hatte. Aber bestimmt würde ich die Pferde gleich sehen. - Und richtig: Als ich fast oben auf dem Berg angekommen war, entdeckte ich sie endlich, alle drei. Durch die zwei Zäune der beiden benachbarten Obstplantagen waren sie gut zu erkennen. Sie sahen mich verwundert an, alle drei. Sicherlich fragten sie sich, was ich in dem benachbarten Obstgarten wohl vor hatte. Eigentlich hatte ich dort nichts weiter geplant. Und deshalb begann ich gleich mit dem Abstieg.

Natürlich gab es im Zaun der ersten Obstplantage genauso ein Tor. Auf die gleiche Weise wie zuvor erlangte ich Zutritt und begann mit meinem dritten Aufstieg. Langsam kam ich etwas ins Keuchen. Für eine Gebirgswanderung hatte ich eigentlich zu schwere Hosen und die falschen Schuhe an. Bald hatte ich trotzdem die Pferde erreicht. Ich begrüßte sie nacheinander, indem ich jedem Pferd meine Handoberseite zum Beschnuppern hinhielt. Dann streichelte ich jedes. Guy zum Schluß. Ich war froh, endlich bei ihm zu sein. Er nicht. Als ich den Karabinerhaken meines Führseils einhaken wollte, trabte er unvermittelt davon. Ich hatte ihn die letzten Male nicht am Halfter festhalten müssen. Das hatte ich heute auch nicht getan. Schade. Langsam ging ich ihm auf gebogener Linie nach. Irgendwo blieb er stehen. Nachdem ich ein paar Bögen gegangen und zwischendurch ein paar Mal stehengeblieben war, hatte ich ihn wieder erreicht.
Diesmal griff ich gleich ins Halfter und konnte mein Seil einhaken. Ich streichelte ihn noch kurz und ging los. Guy nicht. Er blieb stehen. Mir war, als hätte ich ihn soeben "Nö!" sagen hören. Langsam waren wohl meine Nerven etwas überreizt. Alle vier Beine hatte er in den Boden gerammt; an Losgehen in Richtung Ausgang war überhaupt nicht zu denken. Ich schaffte es, ihn nach rechts mitgehen zu lassen. Auch in die andere Richtung war es kein Problem. Also lag es nicht daran, dass er nicht neben mir hergehen wollte, weil er sich vielleicht für meine nassen Hosen schämte. Nein, das war es nicht. Sobald ich aber wieder den Ausgang des Obstgartens ansteuerte, blieb er stehen. Ich glaube, er hatte heute keine Lust, diesen zu verlassen. Offensichtlich würde er mich also durchaus in seine Herde integrieren; aber er würde der Chef bleiben wollen. Und zwar hier. Damit war ich allerdings nicht ganz einverstanden. Was tun?

Vorhin war es Verzweiflung, jetzt stieg etwas anderes in mir hoch: Ärger. "Paß mal auf, mein Freund!", sagte ich zu ihm, "ich habe jetzt eine dreiviertel Stunde anstrengenden Weg hinter mir, um dich endlich zu finden. Ich kann dir nur raten: Sei lieber ganz vorsichtig und benimm dich! Denn ich bin jetzt richtig sauer! Für solche Spielchen habe ich heute einfach keinen Nerv mehr! - Also komm jetzt!!" Bei den letzten drei Worten war ich für meine Verhältnisse schon sehr laut geworden. Gleichzeitig hielt ich die Gerte, die ich ja heute die ganze Zeit mit mir herumgetragen hatte, hinter meinem Rücken mit der Spitze nach oben und wedelte sie so schnell hin und her, dass ein sirrendes Geräusch entstand. Das brachte Guy aus der Fassung: ‚Das gefällt mir überhaupt nicht!', dachte er, ‚Wer weiß, was das Ding da hinten als nächstes vorhat. - Vielleicht springt es mich an und frisst mich? - Dann gehe ich lieber mit meinem Menschen zum Ausgang. Der wollte sowieso dahin.' Wir gingen nun los, und ich ließ keinen Zweifel daran, dass ich ein erneutes Anhalten nicht dulden würde. Sobald Guy wieder langsamer wurde, zog ich ihn am Halfter nach vorn, wedelte hinter uns wieder mit der Gerte und sagte gleichzeitig laut: "Komm jetzt!!". Und jedesmal, wenn der Kopf sich auch nur ein wenig zur Seite bewegte, hielt ich sofort mit dem Seil dagegen und zog den Kopf wieder gerade. Weil ich so frühzeitig reagierte, benötigte ich dafür nur wenig Kraft. Ich beschleunigte meinen Schritt nach und nach immer mehr, so dass er bald zeitweise neben mir traben musste, um noch Schritt halten zu können. Er versuchte jetzt nicht mehr umzukehren oder zur Seite abzudrehen.

So erreichten wir den Hof und dort den Anbindeplatz. Dazu hatte ich über eine Stunde benötigt! Und ich war völlig außer Atem. Aber was tut man nicht alles, um sein Pferd zu finden und es dann davon zu überzeugen, dass es gehorchen soll, auch wenn man dabei auf Gewalt verzichten will.