Die Politik der kleinen SchritteUm fliegende Galoppwechsel zu erlernen, setze ich mich nicht auf das Pferd und übe einfach fliegende Galoppwechsel. Zuerst werde ich das Pferd aus dem Galopp in den Trab durchparieren, es umstellen und auf der anderen Hand wieder angaloppieren. Nach und nach werde ich dafür immer weniger Trabtritte benötigen. Irgendwann sind es nur noch zwei, später ein Trabtritt. Dann dauert es bis zur Erreichung meines Ziels nicht mehr lange: Ich brauche für die Umstellung des Pferdes überhaupt keinen Trab mehr. Das ist der fliegende Galoppwechsel.Ich habe mich also in kleinen Schritten an ein großes Ziel herangetastet. Ganz genauso würde ich das tun, um einem Pferd etwas Neues beizubringen, wenn es sich nicht in einem einzigen Schritt bewältigen läßt. Das gilt für viele Aufgaben. Für das Erlernen des fliegenden Galoppwechsels ebenso wie für das Bewältigen einer Angstsituation, in der sich das Pferd befinden mag. Und: Das gilt, wie schon angedeutet, für Pferd und Mensch. Beide lernen wir nach denselben Prinzipien. Dies ist angewandte Rücksichtnahme auf die momentanen Möglichkeiten des Pferdes. Und auf meine eigenen Möglichkeiten. Ein BeispielHat ein Pferd Angst vor Plastikfolie, so werde ich nicht versuchen, es gleich in Plastikfolie einzupacken. Das übersteigt die momentanen Möglichkeiten des Pferdes und meine eigenen. Stattdessen falte ich die Folie zunächst in ein ganz kleines Paket und beginne, das Pferd damit nach und nach überall zu berühren. Erst wenn es am ganzen Körper keinerlei Abwehr mehr zeigt, klappe ich das Päckchen einmal auf, vergrößere es so ein wenig und beginne das Training am ganzen Körper erneut. Das mache ich solange, bis die Folie ihre maximale Größe erreicht hat und das Pferd nicht mehr beunruhigt. Nun ist der Moment gekommen, wo das Pferd und ich es schaffen können, es quasi vollständig in Folie zu verpacken.An und für sich ist das keine neue Erkenntnis. In der Ausbildung von Pferden wird dieses Prinzip angewendet. Meistens. Bei der Lösung von Problemsituationen, in die man mit Pferden hineingeraten kann, sieht das schon wieder ganz anders aus: "Setz dich durch! Hau mal anständig mit der Gerte drauf!" Dabei hatte das Pferd vielleicht nur aus Angst gezögert, weil ihm noch niemand beigebracht hat, dass eine Plastiktüte keine Gefahr darstellt, ebenso wenig, wie ein unbekannter Weg. Anstatt dem Pferd schrittweise die Angst zu nehmen, versucht man, es in einem einzigen Schritt durch die Situation zu zwingen. - Nächstes Mal wird die Angst des Pferdes noch größer sein!... Na - das hört sich alles klug an, nicht wahr? Gefällt mir selbst! Allerdings muss ich zugeben, dass mir das nicht selbst eingefallen ist. Mein Patenpferd Ikarus in Thüringen hat mich auf diese Methode aufmerksam gemacht, indem er sie mir vorgeführt hat. Aber das habe ich ja bereits im Thema "Verhalten von Pferden" in der Einleitung geschildert; dort gibt es so ein kleines Symbol, das zum Artikel "Pferde beobachten" führt: Wie mir diese Beobachtung bereits geholfen hat, können Sie anhand eines Beispiels auch noch einmal unter Geschichten etwas ausführlicher nachlesen: Der bedrohliche Waldweg. Ein klares, verständliches Beispiel ist auch dieses: Noch ein BeispielNein! Da gehe ich nicht durch! Man sieht nicht, was dahinter ist. Keine Ahnung, was die Pferdefresser, die sich dort wahrscheinlich verstecken, als nächstes vorhaben. Ich gehe zurück! - Das alles geht in Kalle, meinem Pferd, gerade vor, als er den Rückwärtsgang einlegt. Bestimmt fünfzigmal sind wir hier schon hindurchgegangen. Aber heute hat es geregnet, alles glänzt vor Nässe und der Wind bewegt das Schilf und die Sträucher. Ich versuche es mit mehr Schenkeldruck. Kalle geht wieder rückwärts statt vorwärts. Und regt sich noch mehr auf. Auch Kreisen mit dem Zügelende hilft nicht. - Nein. Kampf bringt uns nicht weiter. Ich richte Kalle selbst noch ein paar Schritte rückwärts und gönne uns eine Verschnaufpause. Dann reite ich ihn vorwärts an und pariere schon nach drei Schritten zum Halten durch. Verschnaufpause. Wieder zwei Schritte vorwärts und: Pause! Zwei Schritte - Pause. Das machen wir solange, bis wir direkt vor dem Durchgang stehen. Wieder reite ich an und pariere diesmal nicht durch, sondern erhöhe sofort den Druck, als Kalle zögert. Und: wir sind durch und stehen auf der Wiese! Kalles Kopf schießt sofort ins Gras und beginnt zu fressen. - Eine Übersprungshandlung, die ich in diesem Moment für eine Minute zulasse. Danach können wir weitergehen, als wäre nichts gewesen.Das ist die angewandte "Politik der kleinen Schritte". Übrigens: beim nächsten Mal hatten wir an dieser Stelle gar kein Problem mehr. Kalle zögerte nicht einmal mehr vor dem Durchgang. Hätte ich mich beim letzten Mal mit Gewalt und Gerte durchgesetzt, hätte ich es vielleicht schneller geschafft und ein paar Minuten "gespart". Von da an wären die Probleme an dieser Stelle aber größer geworden. |