Absteigen! - Oder: Der QuadrupedeneffektGuy und ich waren im Wald unterwegs. Das Wetter war schön und Guy ging es gut. Deshalb machten wir eine etwas größere Runde. Bald kam eine günstige Strecke für einen kleinen Galopp. Das war vorher schon lange nicht mehr möglich, weil es viel geregnet hatte und der Boden immer matschig und rutschig war. Heute sah es viel besser aus. Und dort vorn kam eine sanfte Steigung. Also: Galopphilfe und los. Auch Guy hatte darauf schon gewartet und schoß los. Ich ließ ihn, denn aufgrund seines Asthmas hatte er sowieso keine Kondition und würde von selbst gleich wieder durchparieren. Aber plötzlich blieb er mit einem Vorderhuf in einer Vertiefung hängen, weil wir beide nicht besonders auf die Bodenverhältnisse geachtet hatten. Guy ging vorn runter und mir war sofort klar, daß er sich nicht wieder fangen könnte. So stieg ich über seinen Hals ab, halb abgesprungen, halb gefallen, rollte sauber ab und landete auf allen Vieren. Guy stand schon wieder und wartete auf mich, obwohl ich nicht nur die Zügel, sondern die gesamte Trense in der Hand hatte. Es ist eine Western-Trense, nur mit losem Kehlriemen, die man ohneweiteres auch ungeöffnet abnehmen kann. Genau das hatte ich wohl im Flug getan. Aber nicht so schlimm. Er stand ja da. Also krabbelte ich auf allen Vieren die zwei Meter zu meinem Hut, um ihn wieder aufsetzen zu können. Noch bevor ich wieder aufstehen konnte, wurden Guys Augen groß. Er machte auf dem Absatz kehrt und galoppierte davon. Ich stand auf und rief ihn. Er galoppierte weiter. Er hörte mich nicht oder hörte nicht auf mich. Etwas trieb ihn davon. Also hängte ich mir die Trense über die Schulter und begann, den ganzen Weg durch den Wald zurück zu gehen. Die ganze Zeit hoffte ich, daß mich niemand sehen würde. So ganz ohne Pferd, die Trense über der Schulter... Niemand hat mich gesehen. Guy stand an der Koppel bei den anderen beiden Pferden. Als ich ankam, drehte er freundlich seinen Kopf zu mir: "Da bist du ja endlich! Hast du auch den merkwürdigen Vierbeiner gesehen? Da mußte ich erstmal weg. Wer weiß, was der sonst gemacht hätte. Gut, daß du auch entkommen bist!" Ich legte ihm die Trense wieder an, stieg auf und ritt wieder zu der Stelle, wo wir angaloppiert waren. Wieder gab ich die Galopphilfe und Guy galoppierte ganz vorsichtig an. So vorsichtig und sanft war er vorher noch nie im Galopp unterwegs gewesen. Diesmal parierte ich ihn ordnungsgemäß durch. Ich lobte ihn und ritt mit ihm nach Hause zurück, weil es bereits dunkel wurde. Was war eigentlich passiert? Warum galoppierte Guy plötzlich davon, obwohl er doch zuvor auf mich gewartet hatte? Was hatte ihn von mir weg getrieben? Zur Erinnerung: Ich war auf allen Vieren gelandet. Solange ich mich nicht bewegte, war für Guy noch alles in Ordnung. Wäre ich gleich aufgestanden und zu ihm gegangen, wäre wahrscheinlich gar nichts passiert. Ich hätte ihm die Trense wieder angelegt, hätte meinen Hut aufgehoben, wäre wieder aufgestiegen und weitergeritten. Aber ich war zuerst zu meinem Hut gekrabbelt. So wie ich war, auf allen Vieren. In dieser Position hatte mich Guy nicht mehr als das erkannt, was ich bin, ein Mensch. Er hielt mich in diesem Moment für einen unbekannten Vierbeiner, der auch ein Raubtier hätte sein können. Also tat er das aus seiner Sicht einzig Vernünftige: Er trat die Flucht an. Als ich danach wieder mit ihm zusammentraf, begrüßte er mich gewohnt freundlich, denn der unbekannte, potentiell gefährliche Vierbeiner war ja nicht mehr zu sehen. Das was da passiert war, nennt man "Quadrupedeneffekt" (übersetzt: Vierfüßlereffekt). Läßt sich ein Mensch auf alle Viere nieder und bewegt sich in dieser Position vorwärts, erkennt ein ungeübtes Pferd seinen Menschen nicht mehr als solchen wieder. Und ich hatte das mit Guy niemals geübt. |