Wer hat das Sagen? - Die RangordnungAuch Pferde haben in ihrer Herde eine bestimmte, klare Rangordnung, die im Laufe der Zeit nur wenigen Änderungen unterworfen ist, wenn die Zusammensetzung der Herde gleich bleibt. Die Rangordnung der Pferde hat auch für uns Menschen eine wichtige Bedeutung.Wer hat das Sagen?Pferde möchten ganz genau wissen, wie sie sich einem anderen Pferd gegenüber zu verhalten haben: Führend? Fordernd? Dominant? Zurückweichend? Sich unterordnend?Ist diese Frage noch ungeklärt, bedeutet das für ein Pferd Ungewissheit, Unbehagen, Streß. Deshalb klären Pferde untereinander sofort die Rangordnung. Dabei kommt es zu Imponiergehabe, Drohgebärden, Rangeleien aber manchmal auch zu handfesten Bissen und Tritten. Meist beschränken sich die Kontrahenten aber auf ein bißchen Drohen mit anschließendem Weglaufen des Unterlegenen. Ist auf solche Weise alles geklärt, weicht das unterlegene Pferd zurück. Wichtig dabei: Pferde sind nicht nachtragend. Das überlegene Pferd hat von nun an bestimmte Rechte, die es auch mit Gewalt durchsetzt: Es darf als erstes an's Futter, es darf anderen, rangniederen Pferden drohen, sie verscheuchen, oder sogar beißen oder nach ihnen treten. Wichtig:
Auch das unterlegene Pferd hat Vorteile daraus: Es hat nun jemanden, an dem es sich orientieren kann, weil dieser ständig aufpaßt (z. B. ob Raubtiere in der Nähe sind) und die nötigen Entscheidungen trifft. Die meisten Pferde akzeptieren lieber einen Führer, anstatt die Rolle selbst zu übernehmen, denn die Führerrolle ist anstrengend. Beide Pferde akzeptieren also das Ergebnis bereitwillig.Der Chef bestimmt Richtung und Geschwindigkeit der anderen Pferde. Und: Der Chef stellt nicht nur Verhaltensregeln auf, sondern wacht auch über deren Einhaltung. Die sogenannten Alpha-Tiere, die Anführer einer Herde, herrschen oft sehr resolut und unberechenbar über die anderen Herdenmitglieder, die dann eher aus Angst fügsam sind. Deshalb sind die "Alphas" meistens allein, denn die anderen Pferde sind nicht gern mit ihnen zusammen. Sie lassen solchen Anführerpferden zwar ihre Vorrechte, gehen ihnen aber aus dem Weg. Denn wer möchte schon gern verscheucht, getreten oder gebissen werden? Als Konsequenz daraus fordern Fachleute, wir müßten diese Rolle des Alphatiers übernehmen, wenn wir mit Pferden Umgang haben. Geht das auch ruhiger?Ja. Manche Pferde werden in höhere Positionen "gewählt". Man kann immer wieder 'mal einzelne Pferde beobachten, denen sich andere Pferde freiwillig anschließen. Sie suchen die Nähe von solchen Pferden, weil diese kaum Gewalt anwenden, an Rangordnungskämpfen nicht interessiert sind, Ruhe, Selbstsicherheit und Kontinuität ausstrahlen. Konflikten gehen sie geschickt aus dem Weg, wenn ihnen dies möglich ist. Sie behalten die Umgebung im Blick und erkennen Gefahren. Entscheidungen, die sie treffen, machen für die anderen Pferde Sinn. Auch solche Pferde wissen sich durchzusetzen. Aber sie wissen auch, wie das mit möglichst geringem Aufwand an Gewalt (und somit Energie) geht.Sie sind aus pferdischer Sicht kompetent. Solchen Pferden vertrauen viele Herdenmitglieder und ordnen sich ihnen freiwillig unter -- wird ihnen doch die Unterordnung angenehm und leicht gemacht. Durch diese "Wahl" steigen diese Pferde in der Rangordnung, ohne das sie sich durch Gewaltanwendung beweisen mußten. Diese Rolle zu übernehmen, gefällt mir besser und fällt mir leichter. Um das zu können, ist ein gewisses Grundwissen über das Wesen der Pferde erforderlich. Sie sind gerade dabei, sich solches Wissen zu erwerben. Noch mehr RangordnungDie obige Darstellung der Rangordnung innerhalb einer Pferdeherde ist ein sehr vereinfachtes Modell, zeigt aber besser verständlich ihr Prinzip auf.In der Realität sind die Hierarchiestrukturen in der Herde komplexer. Sie orientieren sich nicht nur am Grad der Aggressivität und Stärke eines Individuums, sondern auch an seinen besonderen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften. Die "gewählten" Anführer wissen beispielsweise, wie sie relativ energiesparend mit dem Alphatier fertig werden, so daß auch die anderen Herdenmitglieder ans Futter oder ans Wasser kommen. Die übrige Zeit zeigen sie vielleicht ein wenig dominantes Verhalten. Einem ansonsten kaum dominanten Pferd folgen alle anderen wiederspruchslos und ganz selbstverständlich, wenn es darum geht, eine neue Wasserstelle zu finden, weil sie wissen, daß dieses Pferd ein besonderes Gespür dafür hat. Für diese konkrete Rolle hat dieses Pferd plötzlich allen anderen Herdenmitgliedern gegenüber den höchsten Rang. Oder ein rangniedriges Pferd kommt auf die Idee, das trockene Heu vor dem Fressen im Wasser der Tränke einzuweichen. Die anderen Pferde haben trotz des niedrigen Ranges dieses Pferdes überhaupt kein Problem damit, diese Idee zu kopieren. Bald "matschen" alle Pferde im Stall mit ihrem Futter in den Tränken herum, die dann viel öfter gereinigt werden müssen als früher... Das in manchen Dokumentarfilmen oder Büchern bemühte Prinzip des Leithengstes stimmt so nicht. Nur, weil sich Hengste so kamerawirksam in Szene setzen können, heißt das noch lange nicht, daß ihre Aggressivität und Stärke ausreichen, daß die übrigen Herdenmitglieder ihnen vertrauensvoll folgen. Die Rolle des Gefahrenwarners innerhalb der Herde kann aufgrund seiner Kompetenz und Ausgeglichenheit ein ganz anderes Pferd innehaben. Die Erziehung und Disziplinierung von Jungpferden übernimmt oft eine erfahrene Leitstute. Damit hat der Hengst meist gar nichts zu tun. Aus diesen Gründen können auch vom Menschen zusammengestellte Herden funktionieren, die ohne Hengste auskommen müssen. Ein Pferd kann z. B. aufgrund fortgeschrittenen Alters oder Krankheit seinen bisherigen Rang vollständig verlieren. Solche Pferde sind dann plötzlich manchmal sehr empfänglich für besondere Zuwendung durch den Menschen. Abgesehen von solchen Ausnahmen bleibt die Rangordnung innerhalb einer Herde ziemlich stabil, solange das betreffende Pferd die von ihm erwartete Kompetenz oder seine Kraft und Aggressivität unter Beweis stellen kann. Konsequenzen für den ReiterIch bin aufgrund der oben geschilderten Tatsachen der Meinung, daß ich meinem Pferd beim Reiten hin und wieder sogar eine Entscheidung zugestehen darf, ohne daß die Gefahr besteht, daß es dann vollständig die Führungsrolle in allen anderen Bereichen übernehmen wird. Ein Beispiel: Viele Pferde verstehen von Bodenverhältnissen mehr als ich. Verweigert mir ein Pferd, mit dem ich sonst sehr gut auskomme, plötzlich den Galopp, dann hat das sicherlich seinen Grund. Höre ich dann ein paar Trabtritte weiter die Hufe meines Pferdes in den Schlamm patschen, obwohl ich den Boden dort für trocken hielt, dann bekommt mein Pferd an dieser Stelle statt einer Strafe eine extra Streicheleinheit. Viele Reitlehrer würden mich dafür vielleicht über's Knie legen wollen. Ich habe aber die Erfahrung machen können, daß sich solche Zugeständnisse, wenn sie berechtigt sind, positiv auf das Vertrauensverhältnis zwischen Pferd und Reiter auswirken. Würde ich dagegen eine Entscheidung auf einem Gebiet, auf dem ich kaum Kompetenz besitze, mit Gewalt durchsetzen und uns so in Gefahr bringen, würde ich das Vertrauen des Pferdes zu mir deutlich schmälern.Also versuche ich immer eine Arbeitsteilung mit dem Pferd zu erreichen: Ich bestimme Richtung und Geschwindigkeit und achte auf die Raubtiere in der Umgebung. Das Pferd verläßt sich dabei auf mich und achtet auf die Bodenverhältnisse. Beide warnen wir uns gegenseitig, wenn aus unserer jeweiligen Sicht Gefahr droht, und treffen Entscheidungen in unserem jeweiligen Verantwortungsbereich. Trifft das Pferd aber eine Entscheidung z. B. im Bereich "Raubtiere/Monster", in welchem ich über wesentlich mehr Kompetenz verfüge, muß ich diese natürlich korrigieren können. Deshalb gehört zu meinem Aufgabenbereich auch, Angstsituationen für das Pferd zu entschärfen. Habe ich mich dagegen verirrt, überlasse ich dem Pferd die Entscheidungen über unsere jeweilige Richtung, bis mir der Weg wieder bekannt ist. Natürlich geht diese Aufgabenverteilung noch weiter, je nach auftretenden Situationen. Aber bis hierhin soll es mal genügen. Ich denke, das Prinzip ist damit vollständig erklärt. |